Neulich hatte ich ein ausgesprochen interessantes Gespräch mit zwei
intelligenten Frauen.
Dieses Gespräch hat einige meiner Lebensvorstellungen innerhalb
einer Stunde umgeworfen oder zumindest in Frage gestellt.
Seit 2003 und bis zum heutigen Tag stand auf meiner Startseite
wahrheitsgemäß, dass ich in den Achtzigern grossflächige
Waldrodungsarbeiten in der russischen Taiga leitete.
Und da sagt eine von beiden lieben jungen Damen, sie hätte mich
schon länger mit dem Thema Rodungen ansprechen wollen, hatte aber
Bedenken,
dass sie mich mit ihrer "Kritik" verletzen könnte.
Sie wusste noch nicht, dass ich weder empfindlich bin, noch etwas
gegen konstruktive Kritik habe.
Sie glaubt also, ich habe das gut gemeint mit den Rodungen, weil es
nun mal meine Erfahrungen und Kompetenz bestätigen sollte, aber bei den
meisten Deutschen kommt der Begriff "grossflächige Waldrodungsarbeiten"
extrem negativ an.
Ich habe zwar sofort gefragt: "Wieso?", zweifelte aber
nicht an ihrer Aussage. Sie kennt ja schliesslich ihre Landsleute ein paar
Jährchen länger als ich.
Die Wieso-Frage war bloss eine übliche
Standardreaktion.
"Na ja," fing sie an zu erklären, "die normalen Bürger stellen sich
dabei gnadenlose Waldvernichtung, brutale Forstmaschinen, die sich in eine
einst schöne Baumkulisse einfressen, die schrecklichen breiten Typen mit
heulenden Kettensägen, die Vögelchen ohne Nest und ein Reh mit grossen Augen
voll Angst und Vorwurf
vor."
Völlig verblüfft stammelte ich: "Die normalen Bürger sitzen also auf
Holzstühlen an ihren Holztischen unter ihren Holzbalkenträgern, schlafen auf
Holzbetten und verstecken ihre Sachen in Holzschränken - was denken sie sich
denn dabei - wo das alles herkommt?"
"Äh…, ich glaube, sie denken sich gar nichts dabei... Das ist so,
als würde man zum Beispiel über Kinder sprechen. Süss, naiv, tollpatschig,
blonde Löckchen, rosa Kleidchen, ein Tränchen, eine bebende Unterlippe - das
gehört zu Kindern und man spricht sehr gern davon; Blut, Schmerz, Wehen,
Gekreische, klebriger Schleim, Plazenta - gehören ebenso zu Kindern, aber
man ekelt sich davor."
"Na schön, aber wenn es mit einer Schwangerschaft soweit ist,
bestellt man doch eine Hebamme und nicht die Verkäuferin einer feinen
Kinderboutique.
Und, wenn man vorhat, ein paar Bäume fällen zu lassen, bestellt man
auch nicht die alte Jungfer von der Grünen Fraktion, sondern eben den
schrecklichen breiten Typen mit seiner heulenden Kettensäge.
Stell dir bloss
vor, ein Kunde möchte einen Mordauftrag für zwei Kiefern und eine Birke
erteilen, er wünscht sich, dass alles schnell, sauber und ohne
Komplikationen verläuft, und er hat vor sich zwei Baumkiller: einen, der
schon tausende von Aufträgen perfekt erledigt hat und einen, der gerade mit
dem Mordgeschäft angefangen hat. Wen würde er vorziehen?"
Ich selber betrachtete meine Frage als rhetorisch, denn die Antwort
war doch sonnenklar. Deswegen habe ich erst mit einer zweiminütigen
Verzögerung die Antwort realisiert: "Den, der netter ist".
Jetzt fing ich langsam an, den Boden unter meinen Füssen zu
verlieren.
"O, Greta, das ist ja Unsinn! Die Leute vergeben einen Auftrag, sie
geben dafür ihr Geld aus, sie sind an einem Ergebnis interessiert und nicht
an einem Nettigkeitswettbewerb! Wenn einer seinen Job zur Routine gemacht
hat, ist er einfach kompetent, er macht genau das, was ich will, und er
schont meine Nerven! Kapitalismus ist Kapitalismus, Geschäft ist Geschäft
und wenn ich einen dringenden Wunsch nach netten Typen habe, dann schaue ich
mir eine Sparkassenwerbung an oder unterhalte mich mit einem
Vermögensberater."
"Maksym, ich glaube deine Vorstellungen von Kapitalismus stammen aus
den Zeiten, als du noch in der UdSSR Karl Marx studiert hast. Kompetenz,
Geschäftstüchtigkeit, Zuverlässigkeit, Arbeitserfahrung sind inzwischen
ziemlich verstaubte Begriffe. Der moderne Markt wird von zwei Motoren
angetrieben - das, was am besten aussieht, und das, was sich am besten
anhört."
Meine von Karl Marx beeinflussten Vorstellungen vom Markt und
Geschäft waren immer noch nicht vollständig zerstört. Ich hatte noch ein
Argument, zwar das letzte, aber dafür das unschlagbare. Weil es sich um ein
anerkanntes Heiligtum handelte - um die Kinder.
"Lassen wir die verdammten Bäume vorerst in Ruhe, Greta. Wir reden
jetzt bitte über krank gewordene Kinder.
Also
eine normale deutsche Familie, das Kind ist krank, man ist
beängstigt, über alle roten Ampeln fährt man den kleinen Schatz ins
Krankenhaus, dort hat man die Wahl zwischen zwei Ärzten (ich betone das
ausdrücklich - nicht für sich selbst, sondern für das Kind!): entweder einen
älteren, nicht gerade sympathischen, sogar etwas groben, aber dafür sehr
erfahrenen und kompetenten. Dann noch einen jungen, gut aussehenden,
redegewandten, sehr freundlichen, der das Kompliment für die Mutter nicht
vergessen und die schöne Uhr des Vaters bewundert hat, aber leider völlig
unerfahrenen und beruflich gesehen recht hilfslos ist."
Ich grinste
diabolisch, - "Wen zieht man also dann vor?".
Die beiden Frauen schauten sich gegenseitig und dann mich
bemitleidend an.
"Wenn es einen Jungen und Netten gibt, hat der Ältere, Grobe Null
Komma Null Chance gewählt zu werden. Auch von der Krankenhausverwaltung wird
der Ältere nicht gern gesehen. Man wird versuchen, irgendeinen Grund zu
finden, um ihn rauszuschmeißen.
Man geht davon aus, dass er durch sein barsches Verhalten die
Patienten abschreckt und das Haus in die roten Zahlen treibt. Und es ist
völlig Wurscht, dass er fähig und erfahren ist. Außerdem: wie willst du
bitte feststellen, ob ein Doktor kompetent oder nicht kompetent ist?"
Die Welt meiner Wertvorstellungen lag in Trümmern. Es spielte
eigentlich keine Rolle mehr, ob ich die Frage beantworte, aber ich tat es.
"Ganz einfach, ich würde den Arzt fragen, wie lange er im Beruf
tätig ist, und wie viele Patienten er im Schnitt pro Woche behandelt und
wie hoch die Genesungsrate bei ihm ist."
"Maksym, Maksym, du kommst auf Ideen! Es ist ja völlig unmöglich,
solche Fragen einem Arzt zu stellen!"
Ich lernte gerade offensichtlich wieder etwas Neues.
"Wieso denn nicht? Meine Kunden fragen mich oft, wie lange ich
meinen Beruf ausübe und wie viele grosse Bäume ich gefällt habe und ich
freue mich, dass ich diese Frage beantworten kann, ohne mich dabei blamieren
zu müssen.
Jeder Mensch, der sich eine Ware kauft oder eine Leistung in
Anspruch nimmt und dafür zahlt, egal in welcher Form, hat das Recht, genau
zu wissen, was ihm angeboten wird. Wir dürfen einen Bäcker fragen, ob die
Brötchen frisch sind, einen Dachdecker, wie viele Dächer er pro Jahr deckt,
einen Arzt, wie viele Patienten er geheilt hat. Oder?"
"Absurd!" schrien beide Damen auf.
"Was ist absurd? Der Bäcker?"
"Nein!"
"Der Dachdecker?"
"Aber nein!"
"Der Arzt?"
"Klar, der Arzt! Was hast du da für irrsinnige Vorstellungen! Allein
der Gedanke kotzt mich schon an, dass jemand mir solche unverschämten Fragen
stellen würde!"
"O Gott, Verzeihung, aber warum denn nicht?!"
"Darum! Das gibt´s einfach nicht, weil es das nicht gibt......! Und
Basta!"
Ja, alle beide Damen waren Ärztinnen und ich habe sie ungewollt
schwer gekränkt. Mit Schuhen sozusagen in die Moschee hineingetreten.
Um den groben Fehler wieder gut zu machen, wechselte ich geschickt
das Thema.
"Tja, Damen, was soll ich jetzt denn mit meinen grossflächigen
Rodungen machen?"
Die Frauen vergassen sofort meine Taktlosigkeit und diskutierten
heftig über eine Alternative.
In 10 Minuten war es soweit. Der unschöne Satz "In den Achtzigern
leitete ich grossflächige Waldrodungsarbeiten in der russischen Taiga"
könnte jetzt durch folgende stilistische Perle ersetzt werden:
"In den Achtzigern leitete ich in der russischen Taiga den Anteil
der nachhaltigen Forstwirtschaft, der die Holzverarbeitungsindustrie mit dem
Rohstoff versorgt und dem neuen Waldnachwuchs die freien Flächen zur
Verfügung stellt."
Solche Umwandlung ist voll im Trend und fühlt sich geborgen unter
anderen modernen Sprachneuheiten:
Schwarzer Mann - der Mann mit vermehrtem Melaninpigment;
Dumm - alternativ begabt;
Rohfleischesser (Eskimo) - Inuit;
Zigeuner - Roma;
hässlich - ästhetisch herausfordernd;
Rentner - Generation 60+;
Polizist - Freund und Helfer;
Feuerwehr - Tatü-Tata.
Jetzt komme ich hoffentlich meinen Kunden wie ein Holzfäller vor,
der massenweise Bäume umlegt, ohne sie zu fällen.
Es kann passieren, dass manche sagen: "Das ist doch Blödsinn!"
Dann sage ich: "Der Meinung bin ich auch."
Deshalb habe ich sicherheitshalber den schrecklichen Satz beim Alten
belassen.